Marathon war einmal das große Ziel – heute laufen viele 100 Kilometer und mehr oder fahren bis zu 4.000 km am Stück Rad. Aber: Ist das noch Inspiration oder schon Ego-Show? Mein neuer Blogartikel stellt die Frage: Ist Ultra das neue Normal?
Noch vor einigen Jahren galt der Marathon als Gipfel sportlicher Ausdauer. 42 Kilometer – ein Ziel, das Respekt einflößte und als Krönung einer Laufkarriere angesehen wurde. Heute wirkt die Distanz beinahe wie eine Einstiegsdroge: Wer dabei bleibt, landet schnell bei Ultras, 100 Kilometern oder gleich 100 Meilen. Ähnliches beim Radfahren: 200 oder 300 Kilometer sind längst nichts Besonderes mehr, Brevets über 600 oder 1200 Kilometer stehen hoch im Kurs, und Abenteuer wie das Transcontinental Race quer durch Europa üben eine enorme Faszination aus. Wer es noch individueller mag, radelt solo ans Nordkap oder versucht sich an Everesting.

Ultra-Events sind längst kein Nischenphänomen mehr. Sie prägen die Sportkultur einer Generation, die scheinbar keine Grenzen kennt. Doch was treibt diese Entwicklung? Abenteuerlust? Der Wunsch nach Selbstverwirklichung? Oder ein übersteigertes Ego, das durch soziale Medien befeuert wird?
Die Inspiration für diesen Artikel stammt aus einer Diskussion im Laufforum.de zum Thema „Ego – höher, schneller, weiter“. Sie hat mir den Anstoß gegeben, genauer über meine eigenen Erfahrungen und die Szene insgesamt nachzudenken.
Ultra als Phänomen
Laufen:
- 100 km Biel: legendärer Nachtlauf in der Schweiz. Die Sieger schaffen es in ca. 7 Stunden, viele Hobbyläufer brauchen 12–14 Stunden.
- Western States 100 (160 km): eines der ältesten 100-Meilen-Rennen der Welt. Topzeiten knapp 15 Stunden, das Zeitlimit liegt bei 30 Stunden.
- UTMB (Ultra-Trail du Mont-Blanc, 171 km mit 10.000 Höhenmetern): Die besten Läufer sind nach 19–21 Stunden im Ziel, viele Teilnehmer kämpfen über 40 Stunden.
Radfahren:
- Paris–Brest–Paris (1.200 km, 12.000 Hm): Die Schnellsten schaffen die Distanz in 42–45 Stunden, die meisten in 70–80 Stunden.
- Transcontinental Race (ca. 4.000 km unsupported quer durch Europa): Die Sieger brauchen etwa 10 Tage. Das heißt täglich 350–400 km, praktisch ohne Schlaf. Ein Rhythmus wie bei der Tour de France – nur ohne Team, ohne Begleitfahrzeug, allein.
- Everesting (8.848 Hm am Stück auf dem Rad): je nach Strecke zwischen 10 und 20 Stunden. Bildlich gesprochen: den Mount Everest hochfahren – nur eben 100-mal denselben Hügel rauf und runter.
Wandern & Hiking:
- Megamarsch (100 km in 24 Stunden): Für viele eine Grenzerfahrung, weniger durch die Ausdauer als durch die Belastung für die Füße. Mehr als zwei komplette Marathons – aber wandernd, nicht laufend.
Ultra-Distanzen sind damit längst nicht mehr nur eine Randerscheinung, sondern Teil der Mainstream-Sportkultur geworden.

Wer sind die Ultras?

- Altersgruppen: Überdurchschnittlich viele im mittleren Alter (30–60 Jahre), mit Erfahrung und Ressourcen.
- Sozialprofil: Meist Menschen mit stabilem Einkommen, guter Ausbildung, organisiertem Alltag.
- Typen: Abenteuerlustige, Leistungssucher, Sinnsucher, Grenzgänger. Jeder bringt seine eigene Geschichte mit.
Warum immer weiter – was treibt sie an?
- Neugier & Abenteuerlust: Der Reiz, Grenzen auszuloten und das Unbekannte zu erfahren.
- Gesundes Ego: Der Stolz, etwas Besonderes geschafft zu haben – als Motor, nicht als Selbstzweck.
- Übertriebenes Ego: Leistung als Statussymbol, getrieben von Vergleichen und Likes.
- Sinnsuche: In einer Welt voller Routinen versprechen Extreme besondere Erlebnisse und Identität.
- Soziale Medien: Strava-Segmente, Instagram-Posts, YouTube-Filme – digitale Trophäen, die Motivation und Druck zugleich erzeugen.

Bekannte Namen
Die Ultra-Szene ist reich an inspirierenden Persönlichkeiten – aber ebenso an Geschichten, die von Rückschlägen und harten Herausforderungen erzählen.
- Björn Lenhard (Deutschland): Sieger von Paris–Brest–Paris 2015, mehrfach vorn beim Transcontinental Race (u. a. 2. Platz 2017, 3. Platz 2018). In seinem Blogbericht über das TCR 2016 schildert er eindringlich die Vorbereitung und die seelischen Höhen und Tiefen. Ich hatte das Glück, ihn persönlich bei der Transcimbrica kennenzulernen – seine Erfahrung und Bodenständigkeit haben mich beeindruckt.
- Jana Kesenheimer (Deutschland/Österreich): Psychologin, etwas masochistisch veranlagt (sagt sie von sich selbst) – und eine der aktuell stärksten Ultra-Cyclistinnen. Sie gewann 2024 und 2025 als schnellste Frau das Transcontinental Race und wurde 2025 sogar Top-10 insgesamt. Schon 2022 triumphierte sie beim Trans Pyrenees (35.000 Hm, mit einem Tag Vorsprung) und beim Dead Ends & Cake in der Schweiz (450 km, 10.000 Hm, 28:42 h, Gesamtfünfte).
Ihre Persönlichkeit macht sie besonders spannend: Jana beschreibt Ultra-Rennen als „Rennen im Kopf“. Mehrfach stellte sie sich unterwegs die Frage, warum sie das eigentlich tut: „Es fühlt sich grotesk an, weil man selbst ans Limit geht, während das normale Leben weiterläuft.“ Sie hält sich mit Tricks über Wasser – etwa True-Crime-Podcasts oder die Visualisierung kleiner Belohnungen wie „das erste Croissant in Frankreich“.
Geprägt hat sie auch ein schwerer Sturz: Zwei Wochen vor dem Ötztaler Radmarathon krachte sie mit 50 km/h über den Lenker, Kieferbruch an drei Stellen. „Die Zeit danach war hart… ich habe gemerkt, wie sehr ich mich unter Druck gesetzt habe.“ Statt aufzugeben, stellte sie um: Radfahren, aber nach ihren Regeln. Diese Mischung aus Härte, Selbstreflexion und Humor macht sie zu einer Leitfigur der Ultra-Szene – und zu einer, die zeigt, dass mentale Stärke genauso wichtig ist wie körperliche. - Mike Hall (UK): Ausnahmefahrer und Gründer des Transcontinental Race, der 2017 bei einem Ultra-Radrennen in Australien tödlich verunglückte. Sein Tod macht die Gefahren deutlich, doch das Rennen lebt weiter.
- Lumacagabi (Südtirol): Eine ältere Teilnehmerin des Northcape4000, die sich selbst augenzwinkernd als „alte Tante mit grauen Haaren“ bezeichnet. Mit 4.650 km und 32.000 Höhenmetern durch 10 Länder Europas bewies sie, dass Ultra nicht nur jung und männlich ist – sondern auch Mut, Humor und Lebensfreude kennt.
Typische Risiken und Grenzen
- Shermer’s Neck: ein typisches Ultra-Phänomen, bei dem die Nackenmuskeln versagen und Fahrer ihren Kopf mit Bandagen oder Tüchern hochbinden, um weiterfahren zu können.
- Stürze & Unfälle: Trotz Training und Erfahrung bleibt die Gefahr immer präsent.
- Schlafmangel & Halluzinationen: Viele berichten von Trugbildern, Stimmen oder Illusionen nach Tagen im Sattel oder auf den Trails.

- Körperlich: Überlastung, Verletzungen, chronische Schäden.
- Mental: Leere nach dem „großen Ziel“, Abhängigkeit von Anerkennung, permanente Selbstüberforderung.
- Sozial: Training und Events fordern Zeit – Konflikte mit Familie, Beruf und Freundschaften sind vorprogrammiert.


Charakteristika in der Szene – Marathon & Ultra

- Berufliche Fähigkeiten als Ressource: Viele erfolgreiche Akademiker oder Führungskräfte bringen das, was sie im Beruf auszeichnet, auch in den Sport ein. Ultra verlangt mehr als Fitness – es erfordert Planung, Disziplin, Fokussierung auf ein Ziel und die Fähigkeit, in schwierigen Situationen lösungsorientiert zu handeln.
- Wohlstand und Show: In Triathlon- oder Radmarathon-Szenen wird oft teure Ausrüstung als Statussymbol präsentiert. Je länger die Distanzen, desto weniger spielt diese Zurschaustellung eine Rolle. Bei den Super-Ultras dominieren Understatement und Funktion vor Glanz.
- Ältere Athleten: Wer im höheren Alter nicht mehr schneller wird, sucht die Herausforderung in immer längeren Distanzen. Ultra wird damit oft zum neuen Spielfeld für erfahrene Ausdauerathleten.
- Minimalismus: Als Kontrast zu einem komfortablen Alltagsleben reduziert sich Ultra auf das Wesentliche: Bewegung, Essen, Schlaf. Die Ausrüstung ist minimalistisch, aber hochwertig – ein bewusstes Zurück zum Notwendigen.
- Rückzug aus der Masse: Während Massenveranstaltungen wie der Berlin-Marathon über 50.000 Finisher haben (allein 2024 waren es rund 54.000), sind Ultra-Events oft deutlich überschaubarer – viele ziehen bewusst kleinere Felder, Natur und das Gefühl der Selbstorganisation vor. Der Kontrast zwischen einem Megaevent und einem Feld von nur wenigen Hundert Teilnehmenden macht den Reiz vieler Ultras aus.
- Mentale Dimension & Selbstzweifel: Ultra-Sieger*innen wie Fiona Kolbinger, die 2019 als erste Frau das Transcontinental Race gewann, betonten nach ihrem Triumph: „I am so, so surprised to win… I never thought I could win the whole race… I think I could have gone harder. I could have slept less.“
Diese Bescheidenheit und Reflexion zeigen, dass mentale Stärke, Selbstüberraschung und strategisches Denken im Ultra mindestens so wichtig sind wie reine Fitness.
Ausblick
Die Ultra-Szene wird weiterwachsen. Distanzen, Höhenmeter, exotische Kulissen – alles scheint noch steigerbar. Doch vielleicht zeichnet sich irgendwann eine Gegenbewegung ab: ein Zurück zum Wesentlichen, zur Freude an Bewegung ohne Superlative.
Eines bleibt: Der Wunsch, Grenzen zu verschieben, wird nie verschwinden. Entscheidend ist, ob wir das aus innerem Antrieb tun – oder um unser Ego zu füttern.
Vergleich: Massen-Event vs. Ultra-Event (Tabelle)

| Event | Distanz | Teilnehmer*innen | Atmosphäre | Besonderheiten |
|---|---|---|---|---|
| Berlin-Marathon | 42,2 km | ≈ 54.000 Finisher (2024) | Großstadt, Zuschauer-Massen | Weltrekorde, große Expo |
| UTMB (Chamonix) | 171 km / ~10.000 Hm | ≈ 2.500 Starter | Bergwelt, Natur | Finisherzeiten bis ~46 h |
| Transcontinental Race | ~4.000 km, unsupported | ≈ 300 Starter | Selbstversorger, quer durch Europa | Täglich ~350–400 km |
| NorthCape4000 | 4.650 km | ≈ 200 Starter | Einsamkeit, Weite | Von Italien bis ans Nordkap |
Hinweis: Zahlen variieren je nach Jahr; Angaben gerundet.
Fazit
Die Diskussion im Laufforum.de hat mir gezeigt, wie präsent das Thema Ego in der Sportwelt ist – und wie sehr es uns alle betrifft. Meine eigenen Erfahrungen zwischen Erfolgen und DNFs spiegeln genau diesen Zwiespalt wider: Faszination und Inspiration auf der einen Seite, Überforderung und Scheitern auf der anderen.
Am Ende bleibt die entscheidende Frage: Geht es uns darum, wirklich zu erleben – oder nur darum, etwas zu beweisen? Vielleicht liegt die wahre Kunst im Ultrasport darin, das Maß zu finden: ambitioniert zu sein, ohne sich vom Ego treiben zu lassen.
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🏃♂️ Michael aka Imi
Leidenschaftlicher Läufer, Radfahrer und Kraftsportler aus Frankenberg an der Eder.
Immer auf der Suche nach neuen sportlichen Herausforderungen – und mit Freude dabei, Erinnerungen zu bewahren und zu teilen.