👉 Wie ich 2016 in Treuchtlingen mein erstes Brevet fuhr, zwischen Euphorie, Sitzproblemen und einem 600-Kilometer-DNF – und warum mich die Faszination trotzdem nicht losließ.
1. Was sind Brevets?
Wer einmal in die Welt der Langstreckenradfahrer eintaucht, begegnet schnell dem Begriff Brevet. Das französische Wort bedeutet so viel wie „Prüfung“. Und genau darum geht es: Brevets sind keine Rennen, sondern individuelle Herausforderungen über Distanzen von 200 bis über 1.200 Kilometern. Jeder fährt auf eigene Verantwortung, ohne Begleitfahrzeuge, ohne offizielle Wertung – und doch nie ganz allein. Denn unter Randonneuren herrscht ein besonderer Geist: Gemeinschaft, Hilfsbereitschaft und Abenteuerlust.
In Deutschland organisiert der Verein Audax Randonneurs Allemagne (ARA) solche Veranstaltungen an rund 18 Standorten. Das Highlight für viele ist Paris–Brest–Paris (PBP), die legendäre 1.200-Kilometer-Fahrt, die alle vier Jahre stattfindet. Wer dort starten will, muss sich durch eine Serie von Brevets (200, 300, 400 und 600 km) qualifizieren. Schon dieser Weg ist eine Herausforderung für sich.
Für mich begann alles in Treuchtlingen, wo ich 2016 mein erstes Brevet wagte.
2. Mein erstes Brevet in Treuchtlingen
Am Freitagabend erreichte ich mein Quartier: den Waldgasthof Heumöderntal, einsam am Waldrand gelegen. Die 80-jährige Wirtin und ihr ebenso betagter Hund begrüßten mich herzlich. Das Haus war alt, roch nach Rauch, aber für mich als Hüttenwanderer kein Problem – Hauptsache, ein Dach über dem Kopf und etwas Warmes zu essen.

Am nächsten Morgen ging es zum Vereinsheim des VfL Treuchtlingen, dem Startpunkt des Brevets. Dort herrschte sofort eine besondere Atmosphäre: familiär, herzlich, ohne jedes Konkurrenzdenken. Heidi und Karl Weimann, die Organisatoren, kannten viele der Teilnehmer persönlich. Ich kannte niemanden, fühlte mich aber sofort willkommen. Schnell kam ich mit anderen ins Gespräch – auch mit Randonneuren, die schon seit Jahren dabei waren.
Beim Frühstück und in den Gesprächen sog ich die Stimmung auf: Hier ging es nicht ums Gewinnen, sondern ums Erleben. Das spiegelte sich auch in den Rädern wider: vom uralten Stahlross bis zum modernen Carbonrenner, dazu einige Liegeräder und kuriose Eigenbauten. Mein sauberes Alurad wirkte fast schon fehl am Platz zwischen den „gebrauchten“ Rädern der Routiniers.

Der Start erfolgte in Blöcken. Ich rollte im zweiten Block los, zunächst am Ende des Feldes. In der Gruppe mitzuziehen war spannend – aber ich merkte schnell, dass ich mich unter Druck gesetzt fühlte, ständig auf den Vordermann fixiert, ohne die Landschaft richtig wahrzunehmen. Am ersten Anstieg löste sich die Gruppe ohnehin auf, und ich fand meinen Rhythmus.
Das Wetter war kalt und neblig, Temperaturen um die 3 Grad. Dank Wollsocken, Neopren-Überschuhen und dicken Handschuhen blieb ich warm. So rollte ich allein über Hügel, durch kleine Ortschaften und an der Altmühl entlang. Immer wieder traf ich kurz auf andere Fahrer, doch meistens war ich allein unterwegs. Die Hilfsbereitschaft der Szene beeindruckte mich: Wenn ich am Straßenrand hielt, rief fast jeder Vorbeifahrende: „Alles in Ordnung?“

Es gab auch zähe Momente: ein langes, monotones Stück an der Bundesstraße im Altmühltal, wo die Stimmung sank. Doch später, mit Rückenwind, rollte ich wieder beschwingt dahin.
Kurz vor der letzten Kontrolle dann der Schreck: Mein Navi führte mich in die falsche Richtung. Statt Richtung Ziel fuhr ich mehrere Kilometer zurück. Erst nach einigem Suchen und Umdenken fand ich wieder auf die richtige Strecke. Lehrreich, aber frustrierend – und am Ende ein Umweg von 24 Extrakilometern.
Als ich schließlich im Dunkeln mit zwei anderen Randonneuren in Treuchtlingen ankam, war die Erleichterung riesig. Heidi empfing uns mit heißer Suppe. In den Händen hielt ich meine erste Brevet-Urkunde – ein unscheinbares Stück Papier, das mir jedoch wie ein kleiner Schatz vorkam.
239 Kilometer, 2.379 Höhenmeter, knapp 11 Stunden unterwegs – mein erstes Brevet war geschafft.
Und ich wusste: Das war erst der Anfang.

3. Zwischen Euphorie und Ernüchterung
Nur zwei Wochen nach meinem Debüt in Treuchtlingen ergab sich ein glücklicher Zufall: In Gießen fand das erste Brevet des neu gegründeten ARA-Mittelhessen statt. Für mich ein Segen, denn der Startort lag nur eine Stunde von Frankenberg entfernt. Mit gerade einmal 32 Startern war das Feld überschaubar, die Stimmung familiär – und ich mittendrin.

Die 200 Kilometer liefen gut, doch deutlicher als in Treuchtlingen zeigte sich ein Problem, das mich noch Jahre beschäftigen sollte: mein Hintern. Spätestens ab Kilometer 100 musste ich ständig aus dem Sattel, um den Druck zu lindern. Ich finishte zwar souverän, doch die Schmerzen warfen einen Schatten über den Erfolg.
In den folgenden Monaten probierte ich nahezu alles. Fünfzehn verschiedene Sättel wanderten an und von mein Rad – keiner brachte die erhoffte Lösung, manche machten es sogar schlimmer. Einmal war ich so verzweifelt, dass ich 20 Kilometer fast ausschließlich im Stehen fuhr, unfähig, mich hinzusetzen. In solchen Momenten fragte ich mich ernsthaft, ob Langstrecke das Richtige für mich war.
Doch dann geschah etwas, das meinen Weg verlängerte. Eine Randonneurin, die meinen Blog las, schrieb mir: „Probier doch mal den Selle Anatomica.“ Ein amerikanischer Ledersattel, in der Mitte geteilt, um den Druck zu verteilen. Ich bestellte ihn – und tatsächlich: Zum ersten Mal konnte ich stundenlang fahren, ohne dass mir der Hintern den Spaß nahm. Kein Allheilmittel, denn bei langen Strecken musste ich Pausen einlegen, die Radhose wechseln und den verschwitzten Körper trocknen. Doch es war ein echter Durchbruch.

Andere Probleme blieben. Nach meinem ersten gefinishten 400er waren meine Fingerspitzen für sechs Monate taub. Erst ein improvisiertes Bikefitting und dick gepolsterte Handschuhe brachten Besserung. Nackenverspannungen quälten mich weiterhin, aber ich nahm sie zähneknirschend in Kauf.
Manchmal aber spielte ich mit meiner Gesundheit russisches Roulette. Nach meinem ersten 300er in Gießen kam ich kurz nach Mitternacht ins Ziel. Nass, durchgefroren und völlig erschöpft, stieg ich ins Auto und stellte die Heizung auf Maximum. Auf der Heimfahrt, nur wenige Kilometer vor Frankenberg, übermannte mich der Schlaf. Ich erwachte mit einem Schlag, sah eine Hauswand direkt vor mir und riss im letzten Moment das Lenkrad herum. Ich war auf die Gegenfahrbahn geraten, hatte die Bordsteinkante gerammt, der Reifen war platt – und ich hatte unbeschreibliches Glück, heil davonzukommen.
Seit dieser Nacht habe ich nie wieder versucht, nach einem Brevet sofort nach Hause zu fahren. Entweder holte mich meine Frau ab, oder ich übernachtete in der Nähe des Ziels.
4. 600 Kilometer – mein Scheitern in Gießen
Nach Treuchtlingen und Gießen zog es mich auch nach Ostfalen, nach Warberg. Dort sind die Brevets flacher, man trifft viele Liegeräder und Velomobile. Manche Randonneure empfahlen mir damals, ein Liegerad zu probieren, wenn ich solche Sitzprobleme hätte. Tatsächlich durfte ich einmal auf dem Rad meines Nachbarn sitzen – doch nach zehn Metern war klar: Das ist nichts für mich. Also blieb ich bei meinem Sattel, der „einigermaßen funktionierte“, und schob das Thema Liegerad erst einmal beiseite.

Dann kam der Tag, an dem ich das große Abenteuer wagte: mein erstes 600er Brevet in Gießen. Bewusst hatte ich mich für diese Strecke entschieden, weil sie im Profil dem legendären Paris–Brest–Paris ähnelte. Aber schon die Startzeit war eine Prüfung für sich: abends losfahren bedeutete zwei Nächte hintereinander unterwegs zu sein – mit wenig oder gar keinem Schlaf.

Schon früh auf der Strecke machten sich meine alten Sitzprobleme bemerkbar. Jeder Kilometer nagte an meiner Moral. Immer wieder suchte ich auf meinem Navi nach dem nächsten Bahnhof, um auszusteigen – doch die Möglichkeiten waren rar. Also fuhr ich weiter, Kilometer für Kilometer, mehr von Notwendigkeit als von Motivation getragen.
Die erste Nacht war hart, die zweite wurde surreal. Ohne Schlaf begann mein Kopf, mir Streiche zu spielen. Auf der Straße sah ich Gestalten, die keine waren, nur eine kleine Baustellenabsperrung. In einer Allee wurden aus den Bäumen Riesen, die sich bewegten wie in „Herr der Ringe“. In einem Dorf hörte ich plötzlich Schüsse – oder waren es Böller? Für mich war es real, ich spürte Verfolgungswahn, trat in Panik mit aller Kraft in die Pedale, um nur wegzukommen.

Nach rund 500 Kilometern war der Punkt erreicht, an dem nichts mehr ging. Körperlich hätte ich vielleicht noch ein paar Stunden durchgehalten, doch mental war ich am Ende. Schlafmangel, Schmerzen, Halluzinationen – ich wusste: hier ist Schluss.

Es war mein erster großer DNF beim Brevetfahren. Bitter, schmerzhaft, aber auch lehrreich. Ich hatte erfahren, wie dünn die Grenze ist zwischen Faszination und Gefahr. Brevets sind nicht nur ein Test für die Beine, sondern vor allem für den Kopf – und manchmal gewinnt die Erschöpfung.
5. Cliffhanger
Doch so sehr mich dieses Erlebnis auch erschütterte – es bedeutete nicht das Ende. Im Gegenteil: Es war der Beginn einer Suche nach Lösungen, die mich noch auf ganz neue Wege führen sollte …
🏃♂️ Michael aka Imi
Leidenschaftlicher Läufer, Radfahrer und Kraftsportler aus Frankenberg an der Eder.
Immer auf der Suche nach neuen sportlichen Herausforderungen – und mit Freude dabei, Erinnerungen zu bewahren und zu teilen.
📌 Serie „Meine sportliche Vita“ – Dieser Beitrag ist Teil einer fortlaufenden Rückblickreihe.
Hier alle bisher erschienenen Artikel lesen →