Die Corona-Ortsschilder-Challenge – eine sportliche Liebe zur Heimat
Als im Frühjahr 2020 das öffentliche Leben wegen der Corona-Pandemie zum Stillstand kam, war plötzlich alles anders. Fernreisen, Radmarathons, geplante Brevets – alles abgesagt. Wie so viele stand auch ich vor der Frage: Was nun? Zuhause bleiben und abwarten? Für mich kam das nicht infrage. Bewegung, Sport, Ziele – das war immer mein Antrieb. Und so entstand eine Idee, die simpel und verrückt zugleich war: Ich wollte sämtliche 199 Ortschaften meines Heimatlandkreises Waldeck-Frankenberg mit dem Rad anfahren – und zur Dokumentation ein Foto am Ortsschild machen.
Die Motivation
„Bevor man die weite Welt bereist, sollte man erstmal die eigene Heimat kennenlernen.“ Dieser Gedanke war in mir schon länger präsent. Bereits in 2019 hatte ich die ersten Ortsschilder gesammelt und mangels Motivation die Challenge unterbrochen. Corona gab mir wieder den Anstoß weiterzumachenen.
Das Projekt
199 Ortschaften in zwölf Gemeinden – eine stolze Zahl. Ich teilte mir das Projekt in überschaubare Tagestouren auf. Insgesamt sollten es 23 Fahrten werden, die sich über anderthalb Jahre zogen, von Januar 2019 bis Mai 2020. In Summe kamen dabei 1.650 Kilometer und 20.430 Höhenmeter zusammen. Im Schnitt waren das rund 72 Kilometer und 622 Höhenmeter pro Tour – klein genug, um in den Alltag zu passen, aber groß genug, um sportlich fordernd zu sein.
Jedes Ortsschild wurde zum Fixpunkt. Dort stoppte ich, stellte mein Rad in Position und machte ein Foto. Am Ende sollte eine Sammlung entstehen, die mein Projekt sichtbar machte – und die auch ein bisschen wie ein Stempelpass wirkte: Ort für Ort, Schild für Schild, bis das Ziel erreicht war.

Vatertagstour mal anders
Besonders eindrücklich blieb mir eine Tour im Mai 2020 in Erinnerung. Normalerweise wäre ich an Christi Himmelfahrt mit Freunden zur Vatertagswanderung unterwegs gewesen. Doch wegen Corona fiel sie aus – und so wurde es eine ganz andere „Vatertagstour“.

Voll bepackt mit Zelt, Schlafsack, Isomatte und Biwaksack machte ich mich auf, um in einem Rutsch die noch fehlenden nördlichsten Ortschaften abzufahren. 300 Kilometer und 55 Ortsschilder hatte ich mir vorgenommen. Ein ehrgeiziger Plan, zumal ich in jenem Jahr erst 1.300 Kilometer in den Beinen hatte. Aber manchmal ist Selbstvertrauen wichtiger als Trainingskilometer.

Schon nach 130 Kilometern war klar: Hitze, Höhenmeter und das schwere Rad würden ihren Tribut fordern. Ich schlug mein Nachtlager auf, erholte mich kurz, und machte mich dann bei untergehender Sonne wieder auf den Weg. Nachtradeln bei sternenklarem Himmel – ein magisches Erlebnis, ganz im Flow, allein auf leeren Straßen. Nur das ständige Anhalten für die Fotos wurde irgendwann mühsam.

In Vasbeck erlebte ich eine Begegnung, die mir bis heute ein Lächeln ins Gesicht zaubert: Als ich eine Familie nach dem nächsten Friedhof fragte, um meine Wasserflasche aufzufüllen, bot man mir kurzerhand nicht nur Wasser, sondern auch ein Bier an. Wir plauderten eine Weile – natürlich mit Corona-Abstand – und ich durfte meine Vorräte auffüllen. „Die Vasbecker sind nette Leute“, versprach ich später in meinem Bericht. Solche kleinen Begegnungen machten den Reiz der Challenge aus.

Nach Mitternacht fand ich in Wetterburg ein Bushäuschen, in dem ich die Nacht verbrachte. Isomatte ausrollen, Schlafsack aufziehen, die Augen zumachen – spartanisch, aber genau das, was ich brauchte.

Am Morgen setzte ich meine Fahrt fort. Der Plan, wirklich alle 55 Ortsschilder zu schaffen, war der Ehrgeiz, doch meine Kräfte ließen nach. In Twiste, bei einer Tasse Kaffee, studierte ich noch einmal die Karte und beschloss, den direkten Heimweg einzuschlagen. Als ich später die mörderische Steigung nach Helmscheid hinauf kämpfte, wusste ich: Die Entscheidung war richtig.
Und dann war da noch ein eher selbstironischer Aspekt: Wer sich am Morgen vor einer solchen Tour im Intimbereich komplett rasiert, darf sich über brennenden Schmerz durch Schweiß und Reibung nicht wundern. Auch solche Erfahrungen gehören zu einer Challenge dazu – und sie machen die Erinnerung umso lebendiger.
Am Ende standen 232 Kilometer, 2.600 Höhenmeter und 35 dokumentierte Ortschaften in meinem Tourbuch.
Der Abschluss
Im Mai 2020 war es soweit: das letzte Ortsschild, das letzte Foto. Nach 23 Touren hatte ich mein Ziel erreicht. Es war kein großer Triumph wie nach einem Marathon oder Ironman, sondern ein leiser, innerer Stolz. Ein Projekt, das mich durch eine schwierige Zeit getragen hatte, war vollendet.
Reflexion
Diese Challenge hat mir gezeigt, wie viel sportliche Erfüllung auch direkt vor der Haustür liegen kann. Ich habe meine Heimat neu kennengelernt – Wälder, Seen, Flüsse, Dörfer, Menschen. Orte, an denen ich sonst achtlos vorbeigefahren wäre, bekamen plötzlich Bedeutung.
Am Ende stand eine sportliche Bilanz – 1.650 Kilometer, 20.430 Höhenmeter, 199 Ortschilder, 84 Stunden Fahrzeit – aber viel wichtiger war das Gefühl, etwas Besonderes geschaffen zu haben. Ein Projekt, das Heimatliebe und sportlichen Ehrgeiz verband.
Corona hatte uns alle ausgebremst. Doch für mich war diese „Ortsschilder-Challenge“ ein Weg, aktiv zu bleiben und Sinn zu finden. Und sie zeigte mir die Schönheit von Waldeck-Frankenberg – meine Heimat.
🏃♂️🚴♂️🥾🏋️♀️ Michael aka Imi
Leidenschaftlicher Läufer, Radfahrer und Kraftsportler aus Frankenberg an der Eder.
Immer auf der Suche nach neuen sportlichen Herausforderungen – und mit Freude dabei, Erinnerungen zu bewahren und zu teilen.
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